Mehr als 40 Menschen haben am Montag, 24. Januar, um 18 Uhr auf dem Untermüllerplatz demonstriert und damit den sogenannten Spaziergänger*innen den Platz genommen, die dort seit Wochen ihr diffuses Unbehagen ausagierten.
Unter dem Motto „Dießen solidarisch durch die Pandemie – gegen Querdenkerei und staatliche Bewirtschaftung des Menschenmaterials“ hatte die Mittwochsdisko dazu aufgerufen sowohl gegen die Aufmärsche der Querdenker*innen, Impfgegner*innen und Schwurbler*innen aber auch gegen einen Staat zu protestieren, der die Pandemie nur halbherzig bekämpft.
Denn die Pandemie trifft keineswegs alle gleichermaßen, sondern vor allem die Ärmeren, die Obdachlosen, die Geflüchteten, Lohnabhängige im Niedriglohnsektor, alleinerziehende Frauen, viele prekär Beschäftigten und Minijobber, während Konzerne Milliardensubventionen erhielten.
Der Protest wandte sich gleichzeitig gegen Pandemieleugner*innen, denen das Leiden und der Tod so vieler Menschen ebenso wie die Belastung des medizinischen Personals völlig egal ist und die keine Scham haben, mit Nazis gemeinsame Sache zu machen und wüsten Verschwörungsideologien nachzulaufen.
Auf Plakaten kritisierten die Teilnehmer*innen Antisemitismus, Verschwörungsideologien und rechte Hetze und plädierten für höhere Löhne, kürzer Arbeitszeiten und mehr Personal in Krankenhäusern und Heimen. Vor allem forderten sie eine Vergesellschaftung des gesamten Gesundheitssektors, der Profitinteressen entzogen und unter die demokratische Kontrolle der Bevölkerung gestellt werden müsste.
Beeindruckend war der Redebeitrag eines Intensivpflegers aus dem Krankenhaus Weilheim, der die schweren Arbeitsbedingungen schilderte. Er sei Anfang skeptisch gewesen und haben sich erst spät impfen lassen. Er beendete seinen Beitrag mit dem Aufruf: „Lasst Euch impfen!“
Der Redebeitrag:
Unsere Kundgebung heute Abend richtet sich sowohl gegen die sogenannten Spaziergänger, weil sie eine ignorante und menschenfeindliche Haltung vertreten, aber auch gegen einen Staat, der diese Pandemie halbherzig bekämpft.
Klar, diese Spaziergänger haben ihre Nöte und Sorgen, aber uns geht es doch nicht anders.
Wir sehen hier in Dießen etliche Gewerbetreibende und Gastronomen unter ihnen. Ihre Existenz mag gefährdet sein, aber warum demonstrieren sie dann nicht in München vor der Staatskanzlei oder in Berlin vor dem Kanzleramt für einen Rettungsschirm?
Nein, diese Leute bringen mit ihren Spaziergängen nicht ihre existentiellen Interessen zum Ausdruck, was legitim wäre, sondern etwas ganz anderes, etwas beängstigendes und gefährliches.
Wir wenden uns gegen die Spaziergänger und Querdenker, weil sie von Freiheit plärren, aber nur ihrem Egoismus frönen. Ihr Realitätsverlust ist erschreckend, gegen Argumente und Fakten sind sie immun. Die meisten von uns haben in den vergangenen Monaten die mitunter schmerzliche Erfahrung gemacht, dass es nicht immer, aber im Regelfall sinnlos ist, mit ihnen zu diskutieren. Sowenig wie es Sinn hat, mit jemandem zu sprechen, der ernsthaft behauptet, die Erde sei eine Scheibe.
Sie sprechen von Diktatur und man möchte ihnen empfehlen, einmal in Hongkong, Moskau, Minsk oder Khartum zu demonstrieren, wo Oppositionelle schon mal in Lagern verschwinden, gefoltert oder ermordet werden, während die Polizei hierzulande die Schwurbler durch die Straßen eskortiert. Wer das Tragen von Masken als Zeichen einer Diktatur bejammert, hat jeden Maßstab verloren und jeden Anspruch Ernst genommen zu werden
Diese Leute haben auch keine Scheu, gemeinsam mit Nazis aufzutreten und schamlos relativieren sie den Holocaust, in dem sie sich als Opfer wie die Juden gerieren. Die mittelalterliche antisemitische Legende vom Ritualmord lebt in der QAnon-Verschwörungslegende wieder auf, deren Vertreter auf Querdenker-Aufmärschen präsent sind.
Diese Szene der Spaziergänger und Querdenker, der Schwurbler und Impfgegner sollte dennoch nicht in die rechte Ecke gestellt werden. Nein, diese Szene kommt von links, aus dem grün-alternativen, öko-esoterischen Spektrum. Das gilt zumindest für Westdeutschland und das können wir in Dießen an Personen festmachen. Die Nazis agieren als Trittbrettfahrer.
Wesentlich ist allerdings die Haltung dieser Spaziergänger und diese ist sozialdarwinistisch und das ist der zentrale Kritikpunkt.
Es geht ihnen am Arsch vorbei, dass Millionen von Menschen an einer Corona-Infektion sterben und noch mehr unter der Krankheit leiden, manche über eine lange Zeit, etliche vielleicht sogar für immer. Es ist ihnen völlig egal, dass sie mit ihrer Verweigerung von Maske, Abstand und Impfen die Ausbreitung des Virus fördern und Pflegepersonal und Ärzte in den Krankenhäusern völlig überarbeitet sind.
Ihre Aggressivität, ihre Gewalttätigkeit kommt in Übergriffen auf Lehrer und Erzieherinnen, auf Personal in der Bahn, im Einzelhandel oder gegen Journalisten zum Ausdruck. Das kann bis zum Mord gehen. Denken wir an jenen 20-jährigen Schüler, der als Aushilfe in einer Tankstelle in Idar-Oberstein arbeitete und im September 2021 von einem Maskenverweigerer erschossen wurde.
Darum müssen wir diese Bewegung ernst nehmen, denn sie hat faschistisches Potenzial. Deshalb stehen wir heute hier und protestieren gegen diese Spaziergänger:
Haut ab, geht nach Hause und schämt Euch und schaltet endlich Euer Hirn ein.
Wir wollen hier aber auch unsere Kritik an diesem Staat und dieser Gesellschaft anbringen.
Das fängt damit an, dass diese Corona-Pandemie keine Naturkatastrophe ist wie ein Vulkanausbruch, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit menschengemacht, das Resultat der Abholzung von Wäldern, eines ausufernden Handels mit Wildtieren sowie der industriellen Landwirtschaft, insbesondere der Massentierhaltung. Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler vor Zoonosen, dem Überspringen gefährlicher Viren auf den Menschen.
Aber die Regierungen ignorieren die Gefahren, so wie sie alle Gefahren ignorieren, die durch Umweltzerstörungen hervorgerufen werden und lediglich Lippenbekenntnisse abgeben und Aktionismus liefern.
Trotz eines Szenarios des RKI von 2012 über eine Pandemie und deren Folgen mangelte es im Frühjahr 2020 an allem, an Masken, später an Testkits und die Impfkampagne ist bis heute jämmerlich und schwach. Die Gesundheitsämter sind personell und technisch schlecht ausgestattet, Teststationen und Impfzentren müssen zum Teil von Privatleuten aufgemacht und betrieben werden.
Die Privatisierung des Gesundheitswesens war immer schon falsch, sie hat die Versorgung vor allem für Menschen mit weniger Geld verschlechtert und die Arbeitsbelastung für Pfleger und Mediziner erhöht. In der Pandemie treten die Defizite noch deutlicher zutage.
Die Situation in den Pflegeheimen ist erbärmlich, schon vor Corona. Viele Einrichtungen wurden Corona-Hotspots mit hohen Todeszahlen oder mussten ihre Bewohner wie in Einzelhaft halten. Auch das ist die Folge einer falschen Politik, die den Pflegebereich teilweise privatisiert oder jedenfalls glaubt, nach betriebswirtschaftlichen Kriterien führen zu müssen. Dagegen ist immer schon schärfster Protest angemessen.
Zwei Sommer lang wurde von den Politiker*innen versäumt, die Bevölkerung auf die steigenden Infektionszahlen im Winterhalbjahr vorzubereiten, im Sommer 2021 war Bundestagswahl, da wollte man keine Unzufriedenheit hervorrufen.
Warum agiert der Staat so, das Ensemble der Bundes- und Landesregierungen, unabhängig davon, welche Partei regiert? Weil es sich nicht um unseren Staat handelt, sondern den Staat des Kapitals, dessen oberste Maxime lautet, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu sichern und auszubauen.
Der Staat wägt ab zwischen den Verlusten für die Wirtschaft und der Gefahr für die Arbeitskraft der Bevölkerung. Das führt zum Hin und Her zwischen halbherzigen Lockdowns und Lockerungen, während manche Wissenschaftler*innen und Linke eine No- oder Zero-Covid-Strategie fordern.
Darum unterstützte die Bundesregierung mit Milliarden große und strategisch wichtige Unternehmen wie Lufthansa und der Mercedes-Konzern durfte mit 500 Millionen Euro Kurzarbeitergeld seinen Profit auf sechs Milliarden Euro steigern. Hingegen bleiben prekär Beschäftigte, viele Lohnabhängige, Soloselbständige in etlichen Branchen sowie Flüchtlinge und Obdachlose auf der Strecke und an den Frauen die Kinderbetreuung und das Homeschooling hängen.
Selbst bei höchsten Infektionszahlen und überlasteten Intensivstationen wurde und wird in Fabriken weitergearbeitet und müssen viele Leute in überfüllten Zügen und Bussen zur Arbeit fahren. Beispiel Flugzeugindustrie: Während im Fernsehen der europäische Flugzeug-Friedhof in Teruel in Spanien gezeigt wurde, wo Maschinen abgestellt wurden, weil der Flugverkehr eingebrochen war und der Ausstoß an Kohlendioxid in einem Umfang sank, den kein Klimaschutzabkommen zustande brachte, wurde etwa in den Hallen von Airbus in Hamburg weitergearbeitet und entwickelte sich dort ein Infektions-Hotspot. Von den erbärmlichen Verhältnissen in den Fleischfabriken wollen wir hier gar nicht sprechen.
Wir kritisieren sowohl Spaziergänger und Querdenker als auch Politiker und Wirtschaft, weil sie eine große Gemeinsamkeit haben, sie sehnen sich nach dem Normalzustand.
Tun wir das nicht alle? Selbstverständlich, aber wir meinen damit, sich wieder mit Freunden zu treffen, Partys feiern, ins Kino gehen, Spaß haben.
Nach dem Normalzustand dieser Gesellschaft sehnen wir uns nicht, denn der enthält das ganze Elend dieser Welt. Auch ohne Corona-Pandemie hungern Millionen von Menschen auf einem Planeten des Überflusses.
Etwa 80 Prozent der Menschen in diesem Land sind lohnabhängig und fungieren als Humankapital. Sie sind abhängig von einer kleinen Schicht, der herrschenden Klasse, die den größten Teil der Vermögen und Unternehmen besitzt und kontrolliert.
Die Ärmeren sterben in dieser Gesellschaft im Schnitt zehn Jahre früher. Kindern armer Leute ist der Zugang zu höherer Bildung versperrt und ihre Familien werden als bildungsfern verunglimpft, die Alten verrotten in den Heimen und das Personal ist knapp und schlecht bezahlt, weil Pflege wie Krankenhäuser der Logik des Marktes unterworfen ist. Frauen werden von Männern verprügelt, auch ohne Lockdown, weil wir immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft leben.
Deshalb ist auch die Rede von der Spaltung der Gesellschaft durch Corona falsch und irreführend, denn diese Gesellschaft ist immer schon fundamental gespalten.
Es ist der Normalzustand dieser Gesellschaft, der Armut und Elend hervorbringt, Umweltzerstörung und Pandemien wie Covid 19. Es ist dieser Normalzustand, denn wir überwinden müssen.
Anfangen können wir mit der Vergesellschaftung des Gesundheitssystems, von Arztpraxen über Kliniken bis hin zu den Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen. Denn Gesundheitsfragen sollten unter die demokratische Kontrolle durch die Bevölkerung gestellt und Profitinteressen entzogen werden.
In diesem Sinn kann diese Kundgebung nur ein bescheidener Anfang sein. Der Kampf geht weiter.